Gerhard Beilharz:
Die Entstehungsgeschichte des Zyklus „Herdecker Eurythmie“ beginnt, als ich im April 1978 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik György Kurtág zum ersten Mal traf. Es gab im Rahmen des Festivals ein Portraitkonzert von ihm, in dem der Komponist selbst in seine Werke einführen sollte. Er sprang von seinem Platz in der vordersten Sitzreihe direkt auf die Bühne und richtete, sichtlich unter Anspannung stehend und in der ihm eigenen, stockenden Sprechweise ein paar Worte an das Publikum, etwa so: „Ich soll hier sprechen über meine Musik. Das ist leider ganz unmöglich. Die Musik soll erst für sich selber sprechen. Dann, am Ende, falls Sie noch bleiben wollen, kann ich vielleicht noch ein wenig sagen.“ Sprach’s, sprang wieder zu seinem Sitzplatz hinunter – und das Programm konnte beginnen.
Ich selbst absolvierte damals ein anthroposophisch orientiertes „Wanderstudium“an der
„Freien Musik Schule. Kunst – Pädagogik – Therapie“ (wie einst die Handwerksgesellen reisten die Studierenden zu ihren „Meistern“ durch halb Europa).
Mein Hauptinstrument war die seit 1926 neu entwickelte moderne Leier, ein zum damaligen Zeitpunkt außerhalb der Musiktherapie, der Waldorfpädagogik und anthroposophischen Heilpädagogik praktisch unbekanntes Instrument. Als Konzertinstrument ist sie – trotz ihrer inzwischen weltweiten Verbreitung – auch heute noch von völlig marginaler Bedeutung. Das Kurtág-Konzert besuchte ich zusammen mit Ursula Steinke, welche als Heileurythmistin am 1969 gegründeten Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke arbeitete. Der ganze Abend hatte etwas unerhört Elektrisierendes. Hier gab es Stücke von einer zuvor nie gehörten Knappheit und Dichte, in ihrem meist gestischen Duktus am ehesten noch vergleichbar mit improvisatorischen Miniaturen, wie wir sie als „Freies Tongespräch“ im Studium übten.
Besonders angetan hatten es uns die Acht Duos für Violine und Cymbal, op. 4. Einige davon schienen mir vom Charakter und von den spieltechnischen Forderungen her von Cymbal gut auf Leier übertragbar. Bei Ursula Steinke entstand bei diesen Stücken spontan der Wunsch zur eurythmischen Darstellung. Wir besorgten uns die Noten und begannen an drei ausgewählten Stücken mit Kolleg*innen in Herdecke zu arbeiten. Von György Kurtág wussten wir bis dahin lediglich, dass er eine Professur an der Musikhochschule in Budapest innehatte. Ursula Steinke schrieb einen Brief an diese Adresse, erzählte von unserer Arbeit und fragte, ob Kurtág daran interessiert sei. Alsbald kam ein Antwortbrief: Er, Kurtág, habe von Eurythmie gehört, sie aber bisher noch nie gesehen. Ob wir nicht nach Budapest kommen könnten?
Und so geschah es dann: Die Leitung der Herdecker Klinik ermöglichte ihren Heileurythmisten einen Betriebsausflug der besonderen Art: auf seine Einladung hin reisten fünf Eurythmist*innen und drei Musiker nach Budapest.
Am 31. Oktober 1978 in Budapest angekommen, machten wir zu zweit einen kurzen Besuch bei Márta und György Kurtág, um uns für die nächsten Tage zu besprechen. Ich hatte meine Leier dabei und erinnere mich, wie ich dem Meister am Tisch gegenüber saß und er mich bat, etwas zu spielen. Ich spielte etwas. Kurtág: „Leise Töne?“ Kein Problem! „Und laute Töne?“ Ich spielte und improvisierte nach Kräften. „Wirklich laute Töne?“ – Wie laut oder leise auch immer, die Leier hat nun einmal recht enge dynamische Grenzen.
Als wir am nächsten Morgen mit der gesamten Gruppe ankamen und die Eurythmist*innen sich für die nun folgende kleine Privataufführung umzogen, nahm György Kurtág den Geiger Theo Becker und mich beiseite und ließ uns etwas vorspielen, was er über Nacht skizziert hatte. Das erste Stück “Öd und traurig”, des dann nach und nach entstehenden Zyklus „Herdecker Eurythmie“ war geboren. Und der Komponist sprach bereits von der Idee für ein zweites Stück, einen Zank zwischen Flöte und Leier. In der Wohnung der Kurtágs gab es zwei Wohnräume, die durch eine Zwischentür verbunden waren. Für die nun stattfindende Eurythmieaufführung war das eine Zimmer ausgeräumt und so zu einer kleinen Bühne umfunktioniert worden, gerade groß genug für die mit höchster Bewegungsökonomie ausgeführten eurythmischen Gruppenformen. Die Musiker saßen am äußersten Rand. Und György Kurtág, Frau Márta, Sohn György, Enkelkind Judit und zwei oder drei persönlich eingeladene Freunde saßen und standen zuschauend im Rahmen der Verbindungstür. Kurtág war besonders von dem stummen Halleluja der Eurythmisten sehr berührt. Wir mussten unser kleines Programm dreimal wiederholen.
Wir hatten in den folgenden zwei Tagen intensiven Arbeitskontakt und Ideenaustausch mit Kurtág. Nach seiner Komposition gefragt, antwortete Kurtág in der für ihn typischen Bescheidenheit und unerbittlichen Skepsis der eigenen Produktion gegenüber: „Es gibt viele missglückte Versuche und wenige Treffer!“ Und dann erläuterte er seine erste Version von „Blumen die Menschen“, einem Stück, das nur aus den sieben Stammtönen besteht, wobei jeder Ton nur ein einziges Mal verwendet wird. In einer Art Sarabandenrhythmus entsteht ein kleinstes Gebilde, über sechs Oktaven ausgebreitet, ein Mobile von sieben in vollkommenes Gleichgewicht gebrachten Tönen, wobei man – über die Oktavlagen hinweg – von einer wachsenden, sich zunehmend entgrenzenden Intervallreihe sprechen könnte: Sekund, Terz, Tritonus, Quinte, Septime, None. – Kurtág: „Darauf bin ich fast ein wenig stolz.“
Gefragt, ob er etwas für uns und die Eurythmie komponieren würde, lud er uns ein, sich mit ihm in der Musikhochschule zu treffen. Als wir dort angekommen waren, zog er eine alte, etwas abgewetzte Einkaufstasche hervor, die mit faustgroßen Steinen gefüllt war. Jeder von uns bekam zwei Steine und wir sollten damit, unter seiner Anleitung, improvisieren. „Wenn ich für die Gruppe schreiben soll, muss ich erst wissen, wie die Gruppe klingt!“
In den darauf folgenden Wochen bekam Ursula Steinke mehrmals Post aus Budapest. Nach und nach schickte Kurtág die Manuskripte der Herdecker Eurythmie, einem Zyklus von insgesamt 12 kurzen Stücken, gegliedert in drei Teile:
Teil 1: 5 Stücke für Flöte und Leier, genannt Stille Stücke für Olga-Maria (die Eurythmistin und Flötistin Olga-Maria Mulder)
Teil 2: 3 Stücke für Violine und Leier: Kleine erbauliche Konzerte für Theo und Gerhard (Theo Becker und Gerhard Beilharz gewidmet)
Teil 3: Gedichte von Ellen Lösch. Ursula Steinke gewidmet (Die Eurythmistin Ellen Lösch hatte diese vier Gedichte unter dem Eindruck der Begegnung mit György und Márta Kurtág geschrieben. Eines trägt den Titel An Martha.)
Im März 1979 war die Arbeit an den Stücken abgeschlossen. Die zusammenfassende Reinschrift der drei Teile des ganzen Zyklus trägt den Datumsvermerk Budaliget 12.II-6.III 1979. Das dritte der Stücke für Violine und Leier mit dem Titel „… aus der Ferne …“ wurde erst etwas später ergänzt. Die Uraufführung hat am 26. September 1979 im Saal des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke stattgefunden. Kurtág begrüßte das Publikum folgendermaßen: „Dies ist kein Konzert. Seien Sie meine Gäste!“
György und Márta Kurtág waren schon zwei Tage zuvor angereist, um mit uns für die Uraufführung zu proben. Als Interpreten hatten wir nun echte Grenzerlebnisse! Ursache dafür waren nicht nur die bekannte Akribie und Unerbittlichkeit Kurtágs beim Einstudieren seiner Werke, sondern auch unsere Überforderung vom technischen Anspruch mancher Passagen. So entschloss sich der Komponist zu einem unorthodoxen Schritt: Bei der Uraufführung saß er direkt neben uns Interpreten auf der Bühne. Indem er auf intensivste Weise jede musikalische Wendung innerlich mitvollzog – genauer gesagt: vorbildete – und dem an vielen Stellen auch Gestischen Ausdruck verlieh, trug er uns zwischen spieltechnischen Klippen hindurch und ließ uns für diesen Abend über unsere Grenzen hinauswachsen.
Als György Kurtág den Zyklus für die Veröffentlichung bei Editio Musica Budapest vorbereitete, gab ich zu bedenken, dass dies für den Verlag kein gutes Geschäft verspräche. Zum damaligen Zeitpunkt gab es weltweit vielleicht 20 Leierspieler, die das Werk hätten angemessen aufführen können. Kurtág war optimistisch und meinte, als er begonnen habe für Cymbal zu schreiben, sei das ähnlich gewesen. Tatsächlich fiel die Herdecker Eurythmie nach der Uraufführung in einen Dornröschenschlaf. Bis heute ist der Zyklus nirgendwo auf der Welt noch einmal als Ganzes aufgeführt worden. Eine einzige Ausnahme gab es auf Initiative von Wilfried Brennecke, dem langjährigen Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik. Brennecke sorgte dafür, dass sämtliche Werke Kurtágs dort eingespielt wurden. Im April 1986 wurde die Herdecker Eurythmie im Kölner Studio aufgenommen.
Verschiedene Interpreten aus dem direkten Umkreis des WDR und ich als Leierspieler waren daran beteiligt. Wie bereits erwähnt, war die Domäne der modernen Leier jahrzehntelang auf (heil-)pädagogischem und musiktherapeutischem Feld. Selbstverständlich wurde immer auch die künstlerische Seite des Instruments gepflegt, blieb aber im Wesentlichen eingebettet in die entsprechenden sozialen Zusammenhänge, wie Schul- oder Heimgemeinschaften usw. Nur ganz vereinzelt kam es zu öffentlichen Konzerten. Erst mit der Wende in das 21. Jahrhundert ist die Leier zunehmend aus diesem geschützten Raum herausgetreten und wird jenseits von pädagogischen oder therapeutischen Implikationen immer mehr als Instrument zum Musizieren und eben auch Konzertieren entdeckt.